„… was Dieter Löchle macht, ist nämlich sehr eigenartig, um nicht zu sagen sonderbar“
Auszüge aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung „JAHRBUCH“
von Frank-Thorsten Moll, Leiter der Kunstabteilung des Zeppelin Museums Friedrichshafen
Was meine ich?
Zunächst ist mir noch nie ein Künstler untergekommen, der sich so konsequent mit dem Werkstoff Gummi auseinandersetzt.
Der Ursprung ist schnell erzählt: Beim Schwimmen im Neckar ging der mitgeführte Autogummi kaputt, die leere Hülle faszinierte den Künstler und er begann, sich mit Messer und Experimentierfreude an dem Schlauch zu vergreifen.
Es entstanden Schnittbögen und Schnittmuster, die Löchle als Druckstock verwendete. Die Ergebnisse waren so interessant, dass ihn die sonderbare Textur von Farbe auf Gummi, die schillernden Spuren und Verläufe nicht mehr losließen. Der Gummi wurde zu einem vielfältigen Medium.
Gummi finden Sie bei ihm als Druckvorlage, als Leinwand, als Farbe, als dreidimensionales Objekt in bzw. auf den Bildern.
Marshall McLuhan, der berühmte kanadische Medientheoretiker, sagte einmal den vielzitierten und selten verstandenen Satz: „the medium is the message“ — zu deutsch: das Kommunikationsmittel ist die Nachricht. Was er damit meinte, ist mehr oder weniger, dass die Wahl des Mediums die Nachricht bestimmt.
Nehmen wir ein bekanntes Beispiel. TWITTER, die Nachrichtenplattform im Internet, die den Benutzern nur 140&nsbp;Zeichen zur Verfügung stellt, um in Millisekunden Hunderttausende von Leuten zu erreichen, ist ein Medium der Eindeutigkeit und der Abkürzung. Es ist naheliegend, dass weder Nietzsche oder Kant oder Platon ihre Traktate über tausende von Seiten auf Twitter publiziert hätten. Das Medium Twitter schafft durch seine Limitationen die Möglichkeiten zur Nachricht selbst. Was heißt das für Dieter Löchles Arbeit?
Sein Medium sind unterschiedlich zerschnittene Gummibahnen — was ist demnach seine Message — seine Nachricht?
Hier lohnt sich der Blick auf die Kunstgeschichte. Tatsächlich gab es schon andere Künstlerinnen und Künstler, die mit Gummi experimentierten. Eva Hesse, Louise Bourgeois zum Beispiel nutzten Gummi als Formmasse für Skulpturen, Marcel Duchamps nutzte Gummi als Einband für seine surrealistischen Ausstellungskataloge. Die Wahl der Künstler fiel auf Gummi, weil dieser kunsthistorisch unverdächtig war, kein Michelangelo, kein Tizian, kein Rubens hatte damit gearbeitet. Die Emanzipationsbewegung der Kunst nutzte Gummi!
Daneben gibt es eine weitere Bedeutung des Materials. Denn es gibt kein anderes Material, dass so sehr an die menschliche Haut erinnert wie Gummi.
Er ist warm, weich und dehnbar — wie die menschliche Haut. Hat Linien und Muster, die an Fingerabdrücke erinnern und ist je nach Dicke unterschiedlich formbar.
Ich möchte behaupten, dass dieser Aspekt dem Künstler besonders gefallen hat, denn das Menschliche in der Kunst ist ein wichtiger Motivationsgrund seiner Arbeit.
Durch HIV und Aids wurde Gummi als Werkstoff umgedeutet. Gummi wurde zu einem klinischen Material, der Reifengummi als Verweis auf die Automobilindustrie trat in seiner Bedeutung für die Kunst zurück — wichtig wurde der klinische Aspekt. Mathew Barney nutzte Gummi um Prothesen zu bauen und die französische Künstlerin Orlan ging soweit, sich Gummi in Silikonform unter die Haut spritzen zu lassen, um gegen die Schönheitsideale zu protestieren.
Keine Angst! An dieser Stelle zeigt sich die Kunst Löchles als sehr „unzeitgemäß“ und im besten Sinne beständig, denn seiner Kunst fehlt alles Klinische.
Eine weitere Spur um das Rätsel von Löchles Kunst zu lüften führt zu Henry Matisse, dessen Spätwerk vom Scherenschnitt geprägt war. Der alternde Künstler war durch die Behinderung seiner Hand und seine Immobilität an den Stuhl gefesselt und zeichnete und malte mit Stöcken und Stützen aus dem Sitzen heraus. Dies bedeutete, dass der Maler Scherenschnitte und extrem reduzierte Zeichnungen bevorzugte. Die Souveränität, mit der er Motive aus Papier ausschneiden konnte, ist unbestritten und etablierte einen ganz neuen malerischen Ansatz, der bei Löchle ab und zu auftaucht.
Dort wo Malerei zur Schablone wird, bekommt sie etwas Plakatives, das das Auge des Betrachters zunächst wegen seiner Eindeutigkeit verführt und dann durch seine Könnerschaft und Vielschichtigkeit in die Tiefendimensionen des Bildes verstrickt.
Wenn sie nachher die Gelegenheit nutzen, um die Bilder, die auf drei Stockwerke verteilt sind, zu betrachten, fällt Ihnen vielleicht auf, dass sich einige literarische Bezüge in den Bildern verstecken. Da gibt es zum einen die Serie der Sternbilder, die einem Kalenderprojekt entnommen wurden, und ganz klar auf die Ideen der Astrologie und Astronomie verweisen. Sie bringen die Frage Löchles auf den Punkt — nämlich die nach der Stellung des per se des poetischen und künstlerischen Subjektes im Gefüge dessen, was wir Welt nennen könnten.
Woher diese Faszination kommt? Ich nehme an aus einem tief empfundenen Humanismus heraus, der sich an einer Leitfigur oder einem Fixstern festmachen lässt.
Als Mitglied der William Blake Gesellschaft legt Löchle eine klar sichtbare Spur zu seinem geistigen Mentor, dem am 28. November 1757 in London geborenen und am 12. August ebenda gestorbenen englischen Dichter, Mystiker, Maler und Erfinder der Reliefradierung.
Blakes Werk — so geht es vielen bedeutenden Künstlern — wurde von seinen Zeitgenossen weitgehend abgelehnt. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden seine sehr innovativen Arbeiten von den Präraffaeliten entdeckt, fanden allgemein Anerkennung und später auch in der Popkultur Verbreitung.
Die menschliche Form erschien ihm als lebendige Verkörperung der Gottheit. Der Gott des etablierten Christentums war ihm eine autoritäre, durch Gesetze beschränkende Gottheit. Und das Wesen, das in dieser Gottheit als Teufel gesehen wird, war für ihn das erste, das dagegen protestierte. Die Priester, in seinen Augen Wächter einer pervertierten Religion, hinderten die Menschen daran, ihre Energien und Phantasien freizusetzen. Es lag in Blakes großer Vision, dass die Menschen in der Lage seien, alle Beschränkungen, alle Aufspaltungen, zu überwinden, und zu einer Sicht des Einsseins zu gelangen, die für sie befreiend sein würde…
F-T M, 20.11.2014
(Ich weiß, die Werbung hier unten nervt. Und ich kann nicht einmal entscheiden, was hier gezeigt wird.)